Lieber Michael,

ich weiß schon warum es damals nicht zu gehen schien. Es wäre aber gegangen! Man bot mir bei dem Beratungsgespräch (das Pflicht war) ja Hilfe an: Mutter-Kind Unterbringung für 3,5 Jahre. Ich war zu feige, meine Mutter saß daneben, und ich war zu feige das Angebot anzunehmen!

Die Abtreibung war beschlossene Sache und damit basta! Kein Ding, das geht schnell - wer wird sich denn das ganze Leben versauen?

Und ich saß da, mit meinen 18 Jahren - volljährig - und traute mich einfach nichts. Dabei wollte ich das Kind, wollte eine Familie, wollte alles so viel besser und anders machen.

Ich hatte mich drauf gefreut, Michael. Ich wollte dieses Kind – und dann war ich zu feige. Das kann man nicht mit ein paar Worten der Entschuldigung vom Tisch fegen.

Das kann man nicht mit ein paar Worten der Entschuldigung vom Tisch fegen.

 

Darum geht es nicht, liebe Lotte, nichts soll vom Tisch gefegt werden. Aber Du könntest jetzt die damalige Tragödie abarbeiten. Trauere und fühle so, wie Du es jetzt mit allen anderen Lebewesen - nahezu im Übermaß - tust. Vielleicht sind Erinnerung und "Handeln" im Rahmen des jetzt möglichen ein Mittel, das Dich wieder heil machen kann.

 

Liebe Grüße, Michael emoticones

Auch wenn das jetzt auf Dich ziemlich störrisch und stur wirken muss:
Ich fühle mit diesem Kind, das ist es nicht! Und mir tut das alles so unendlich leid. Nur - mich hasse ich für das, was ich getan habe. Wie soll ich so etwas abarbeiten?

Und noch etwas: Wie soll ich denn trauern? Ich habe doch nichts verloren - ich habe das verursacht !!

Liebe Lotte, 

Du wirkst nicht störrisch, sondern verstört. Und dafür gibt es genug Gründe. Du warst eben nicht für die easy-Version "man zerstört sich deshalb doch nicht sein Leben", aber Du hattest nicht die Kraft, dagegen zu halten. Es gibt gute Gründe, um Dich zu verteidigen.
Aber jetzt darfst Du trauern. Und das heilt manchmal die Seele. Höre auf, Dich zu hassen; Du bist, Du warst ein überfordertes Menschenkind.
Niemand speichert gern seine Niederlagen.

Liebe Grüße, Michael, emoticones

 

Ich kann kein Gedicht schreiben. Es steht da immer nur der eine Satz: Es tut mir unendlich leid.
Ich habe mein Kind im Stich gelassen, habe es gequält und vernichtet.
Es hatte doch nur mich als Schutz!

Jeder Satz, den Du jetzt schreibst, liebe Lotte, ist eine Art Gedicht. Trauere, denn das hast Du damals wahrscheinlich nicht zugelassen. Mit trauern und Tränen wirst Du einen wesentlichen Anteil der von Dir empfundenen Schuld wegwaschen. Dein Traum wird Dich nicht mehr zum Erinnern zwingen müssen.   

 

Zum einen ist es gut und wichtig, wenn Du Dich jetzt erinnerst. Ich sagte Dir ja: Die einzige Lüge, die nicht erlaubt ist, ist die Lüge vor sich selbst.
Dann "schalte" ein klein wenig Deinen Animus "ein". Du kannst nicht an ein 18-jähriges Mädchen die gleichen Maßstäbe anlegen, wie an eine erwachsene Frau. Die Kindheit in Deiner Familie war vermutlich nicht so berauschend. Es ist das Natürlichste der Welt, wenn ein Mädchen sich dann nach einer eigenen Familie sehnt. Wenn ich das recht interpretiere, war das "Männchen" dazu aber noch gar nicht reif. Er taucht in Deiner Rückblende nicht auf – stand Dir also sehr wahrscheinlich nicht zur Seite. Und dann steht das Mädchen auf einmal da. Statt Unterstützung bekommt sie Druck von der Mutter.

 Ich habe keine Kompetenz, Dich "freizusprechen", aber es hilft Dir nicht - und es nützt niemandem - wenn Du Dich nun in Schuld wälzt. Du hast jede Menge "mildernde Umstände". In der katholischen Kirche würde Dir nun ein Pfarrer Reue und Buße auferlegen. Deine Reue ist bereits überdeutlich. Nun gib Dir selbst eine Buße auf.

 

Liebe Grüße, Michael emoticones

Lieber Michael,


wenn ich lese was Du schreibst und wie Du von "einem Mädchen" schreibst, kann ich das mit ein wenig mehr Abstand betrachten. Nein, der junge Mann dazu, der hielt sich damals sehr aus allem heraus – meinte nur, er sei nicht bereit, ein Vater zu sein. 

Würde mir ein 18-jähriges Mädchen diese Geschichte erzählen, würde ich sie trösten wollen. Ich sähe in ihr keine Täterin.
Ich will versuchen, es bei mir auch so zu sehen. Im Moment ist das aber schwierig.

Einen ganz lieben Gruß emoticones
Lotte

 

Liebe Lotte,

die Dinge in die richtige Relation zu bringen, ist wichtig. Einmal den Sachverhalt unter Anima-, einmal unter Animus-Gesichtspunkten sehen. Nur gefühls-(anima-)gesteuert, bist Du einfach zu verletzlich. Das Mädchen hat zwar nicht richtig gehandelt, aber es darf auch getröstet werden - zusammen mit der heute erwachsenen Frau. smile
Denn den Fehler hast Du bitter ausbaden müssen. Du hast danach gewaltig verdrängt und musstest deshalb die Schmerzen immer wieder erleben - bis hin in Deine Träume. Das ist Buße genug! Du solltest aber wirklich kritischer mit dem umgehen, was ich als Wahrheit vor Dir selbst bezeichne. Je mehr Du Dir wieder ins Gedächtnis holen kannst, desto mehr kannst Du abarbeiten.


Als Du von den Bienchen und Würmchen erzähltest, die alle geschützt werden müssen, dachte ich mir sofort, dass das eine überzogene Position ist (ich töte Schnecken, die meinen Salat fressen, ohne das geringste schlechte Gewissen smile).

Jetzt vermute ich, dass es eine unterschwellige Antwort auf Dein Verhalten war, Leben einer anderen Dimension einmal in der Vergangenheit nicht geschützt zu haben.

 

emoticones Liebe Grüße, Michael emoticones

Michael und ich schrieben etliche Tage noch sehr intensiv darüber. Mit viel Geduld und Verständnis reagierte er auf meine Selbstanklagen und steuerte seine Sicht dazu bei.

 

Neben den Mails schrieb ich zig Seiten und Texte für mich allein, spürte und erinnerte dem Abbruch nach.

Vor allem erinnerte ich mich wieder klar an die Nacht vor dem eigentlichen Eingriff. Man hatte mir am Abend davor ein Wehen auslösendes Mittel verabreicht und ein Zimmer zur Übernachtung zugewiesen.

Irgendwann in der Nacht kamen die Schmerzen. Zuerst ahnte ich nur, dass dies Wehen sein mussten. Doch jede Schmerzwelle machte mir bewusster, was hier nun gerade passierte. Hellwach, starr vor Entsetzen und zutiefst unglücklich lag ich da und hielt meine Hände über meinen Bauch. Was hatte ich getan! Ich hätte alles anhalten wollen, stoppen, doch jede Schmerzwelle zeigte mir deutlich, dass es kein Zurück mehr gab. 

In dieser Nacht geschah der eigentliche Abbruch. Ich hatte diesem kleinen Wesen in mir seine Daseinsgrundlage entzogen und es aus meinem Körper geworfen. Dies spürte und erlebte ich in dieser Nacht bis ins kleinste Detail. Noch lange danach fühlte ich eine große Leere in mir.

 

Michael beschrieb ich diese Einzelheiten von damals nicht. Das war etwas, das ich für mich allein tun musste und wollte. Die Erinnerungen schmerzten sehr, doch langsam, mit viel Nachspüren und Darüber-Schreiben, wurde es leichter und die Gefühlsstürme ebbten ab. Ich begann Frieden damit zu schließen, mir zu verzeihen – und konnte nun auch objektiver darüber mit Michael schreiben.

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