Kapitel 9

Vom Träumen und Wachen

 

Wieder zuhause tauchte ich rasch in den Alltag ein. Meine Reiseerlebnisse fühlten sich fast schon unwirklich an; gleichzeitig waren sie mir jedoch äußerst präsent. Freiheit, Freude, Mut, neue Gedanken … es war eine andere Art zu leben. Ja, sicher war es eine Urlaubsreise; und natürlich haben es solche per se an sich, sich sehr vom Alltagsleben zu unterscheiden. Aber das war es nicht allein.

 

Nach meiner Rückkehr sah und spürte ich vieles deutlicher als davor. Es war als würde ich mein Leben unter einer Lupe betrachten.

Michaels Beschreibung von Liebesnächten und mein Hinaus-Schnuppern in die Welt hatte Sehnsüchte in mir geweckt, die über viele Jahre verschüttet waren.

Ich hatte sie vergraben, weil ich keine Chance sah, sie jemals stillen zu können. Weil ich nicht wusste, dass es möglich sein kann. Weil ich ...  ja, weil ich im Grunde überhaupt nichts gewusst hatte.  Und weil ich voller Ängste war.

Nun waren sie wieder frei.  

Lieber Michael,   

                   
heute Nacht hatte ich wieder einmal viel Zeit zum Nachdenken.
Sehr schnell hat sich eines herauskristallisiert: Auch nur darüber nachdenken zu wollen, ob ich mit meinem Mann auf Dauer weiter zusammenleben kann oder will, macht mir riesige Bauchschmerzen. Und das meine ich wörtlich. All meine körperlichen Schwachstellen schmerzen.  


Mir ist klar, dass ich gerade darum, weil es so schmerzt, darüber nachdenken sollte. Ich habe das Gefühl, dass ich diesen Punkt schon ganz lange hätte klären sollen, dass er dringend "ans Tageslicht" geholt werden und richtig bewusst betrachtet muss.

 

So oft träumte ich schon von Veränderung. Davon, allein unbekannte Straßen entlang zu gehen - mit mir unbekanntem Ziel. In letzter Zeit häufen sich diese Art Träume und werden „energischer“.

Vor kurzem träumte ich, wie ich einen Einbrecher dabei ertappte unser Haus leerzuräumen. Anstatt die Polizei zu rufen oder Angst zu haben, wie es ja normal wäre, ging ich mit ihm mit! Ließ das leergeräumte Zuhause hinter mir und schloss mich diesem Menschen an, als er das Haus verließ! Bei einem letzten Blick zurück fühlte ich Erleichterung und Freude.
Ich bin nicht besonders gut darin, meine Träume zu deuten. Aber diesen hier zu deuten ist nicht schwer. Als ich aufwachte, erinnerte ich mich deutlich und er machte mir richtig Angst. Nicht so sehr der Traum selbst als vielmehr seine Bedeutung.

Michael, ich benehme mich wie ein kleines Kind, dass sich die Augen zuhält und darum glaubt, keiner könne es sehen.

Wenn mein ganzes Gerede von Veränderung, Wachstum und Persönlichkeitsentwicklung nicht nur Lippen-bekenntnis sein soll, wird es Zeit, dies endlich richtig anzuschauen und zu klären. Was auch immer als Ergebnis dann herauskommt.

Auch wenn es lächerlich sein mag, so einen Aufstand zu machen, nur weil es gilt, über etwas nachzudenken (noch nicht mal zu tun!). Und ich mich wirklich dafür schäme - dennoch ist es so: Es macht mir große Schwierigkeiten. 


Vor ein paar Tagen war mein Bruder hier zu Besuch. Als ich ihm "mein Zimmer" zeigte, in das ich ja übergesiedelt bin, meinte er lachend, das sei ja nun, als hätte ich mein eigenes Kinderzimmer bekommen.  Aber weißt Du, im Grunde ist das überhaupt nicht zum Lachen und er hatte recht! 

Ich fühle mich gerade ein wenig, als wäre ich in der Pubertät und würde versuchen mich abzunabeln; und nicht wie eine 48-jährige Frau mit nun doch wenigstens etwas Lebenserfahrung.


Ganz liebe Grüße emoticones
Lotte

Liebe Lotte,

 

das war wohl ein schriftlicher Befreiungsschlag! Dass es so ist, wie es ist, wissen „wir“ längst. Sich damit nicht beschäftigen zu wollen ist verständlich - und wieder einmal kein Grund sich dafür zu schämen.

 

Die Bauchschmerzen (auch im übertragenen Sinn würde man von „Bauchschmerzen“ reden), die Du hast, sind Existenzängste. Es hat jetzt keinen Sinn sofort darin herumzuwühlen. Aber das Eingeständnis, dass die Beziehung nicht zu Deinem Glück beiträgt, vielleicht nie so recht dazu beigetragen hat, war wichtig. Damit kannst Du einen weiteren Teil des „Sichvormachens“ beiseitelegen.

 

Jetzt „verdaue“ das erst einmal. Du musst nicht gleich mit einem „Einbrecher“ auf und davon gehen! smile

Wenn Du Dich (bei Deinem Baum) wieder stabilisiert hast, hole die vorhandene Animus-Kraft hervor und überlege: Wo liegen welche Vorteile – Nachteile? Für was fühlst Du Dich stark genug? Wie könnte ein Kompromiss aussehen?

Liebe Grüße, Michael emoticones

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