Lieber Michael,

es tut mir leid, dass ich nun schon wieder etwas bei Dir ablade und alles wegen meines Gefühlschaos durcheinanderbringe. Aber ich muss Dir das schreiben; es geht nicht anders. Es handelt sich um den schlimmsten Traum meines Lebens. Und was genauso schlimm ist: Ich kenne ihn gut, denn ich habe ihn vor Jahren oft geträumt - immer und immer wieder - bis das dann irgendwann aufgehört hat.

 Ich hatte den Traum aber völlig vergessen - bis heute!

Der Traum:
Ich bin zuhause. Dort taucht plötzlich eine Leiche auf. Zwischen viel Plunder und altem Zeug ragt sie halb heraus. Ich weiß sofort, dass das „meine“ Leiche ist - ich habe sie vor längerer Zeit dort vergraben und versteckt, damit sie niemals gefunden wird. Ich habe diesen Menschen damals umgebracht! Ich bin voller Panik und Entsetzen. Ich versuche die Leiche wieder irgendwie zu verbergen, sie woanders hinzubringen. Aber ich kann sie nicht berühren, kann ihre Lage nicht verändern. Ich kann nur dastehen, diese furchtbar aussehende Leiche ansehen und starr vor Entsetzen darauf warten, dass sie entdeckt wird. Ich weiß, es wird bereits nach ihr gesucht; es ist nur eine Frage der Zeit. 
Ich sehe diese Leiche, und ich fühle nur riesigen Schmerz, weil ich das war! Ich fühle totales Entsetzen, bin voller Panik und Angst. So schlimm habe ich mich noch nie gefühlt. Und so kurz es sich nun liest - es war ein elend langer Traum.
Michael, so etwas will ich nie, nie wieder träumen!

Ich kann nicht anders, als Dir davon zu schreiben; vielleicht verschwinden so ein bisschen die Bilder und die Gefühle wieder. Es tut mir leid, entschuldige.

Liebe Grüße, Lotte

Liebe Lotte,

 

ich sehe, Du hast das vor 5 Uhr früh geschrieben! Deshalb antworte ich Dir gleich bei meinem ersten Blick auf das Forum. Nein, antworten ist zu viel gesagt; eine Frage habe ich: Hast Du eine Ahnung, wer diese Leiche ist? Bekannt oder unbekannt? Männlich oder weiblich?

Ich denke, es ist wichtig darüber zu schreiben; dann bringst Du es vielleicht schneller wieder aus dem Kopf heraus.

 

Liebe Grüße, Michael emoticones

Lieber Michael,

nein, ich kenne sie nicht und weiß nichts über sie.

Liebe Lotte,

das ist ein bedrückender Traum!
Wenn mehr von der Leiche bekannt gewesen wäre, würde eine konkretere Richtung einer Deutung möglich sein. So muss ich auf eine Deutung der mehr allgemeinen Art zurückgreifen.


Der nachfolgende Text enthält nicht allzu viel Erfreuliches. Ich schicke ihn Dir trotzdem, von mir unkommentiert. Weil ich Dich mit dem Traum nicht allein lassen will. Vielleicht kannst Du nach dem Lesen etwas mehr sagen:

Bedrückender als Todesträume sind Leichenträume. Die Leiche ist mehr als tot. Sie hat nicht das geheimste Leben mehr. Auf solch eine Leiche stößt etwa der Träumer. Sie liegt am wenig beachteten Orte. Man hat vielleicht einen Schrank geöffnet und entsetzt einen längst Toten darin gefunden. Im Keller oder unterm Dach kann die Leiche liegen.

Nicht nur in den düsteren Meldungen der Gerichte, nicht nur in dem auf gruselige Spannung ausgehenden Kriminalroman, nein, auch im Traume kann ein Mensch entdecken, dass er im Koffer eine Leiche mit sich führt. Das ist etwas völlig Totes, Abgestorbenes, das der Träumer aber immer noch in seinem Lebensgepäck mitschleppt. Längst hätte er es begraben sollen. Meist merkt es der Träumende nicht, dass er einen Herd seelischer Infektion stets bei sich trägt, dass er an längst vergangenen Geschehnissen, ein Unglück vor vielen Jahren, das scheinbar längst gut gemacht ist, noch immer leidet und das Vergangene einfach nicht begraben will.

Es kann sein, dass die Leiche auch eine weltanschauliche Haltung darstellt, die man nur noch äußerlich pflegt, in der man aber selbst nicht mehr lebt. Dennoch wird dieser noch immer geopfert, als einer toten Konvention, die man nährt auf Kosten des gegenwärtigen Notwendigen, des werdenden Lebens.

 Während Träume von Begräbnissen und Tod meist keine schrecklichen Bedeutungen haben, sondern eher als Wandlungssymbol gesehen werden, ist die Leiche ein Gefahrensymbol.

Leiche kann für Fehler, Schuld und Versagen in der Vergangenheit stehen, die man zu verbergen sucht, obwohl sie längst erledigt sind. Längst abgestorbene Seiten, Beziehungen, Erledigtes und ein Absterben bestimmter Gefühle des Träumenden, von denen er sich schon längst hätte trennen sollen und die ihn innerlich vergiften, kommen so zum Ausdruck. Manchmal kommt der unbewußte Wunsch nach dem Tod eines anderen zum Ausdruck, mit dem man Probleme hat.

Leichen tauchen häufig in Träumen von Menschen auf, die in oder mit ihrem Beruf unzufrieden sind: Man will etwas ändern, aber es gelingt einfach nicht. In einigen Träumen sind sie auch ein Sinnbild für überwundene Schwierigkeiten. Der Träumende muss sich von diesen in ihm verkapselten Komplexen trennen, dies kann nur geschehen, wenn er sie sich ins Bewußtsein rufen kann.

 

Liebe Grüße, Michael emoticones

Lieber Michael,
was mir zu dieser Passage einfällt

 

Längst abgestorbene Seiten, Beziehungen, Erledigtes und ein Absterben bestimmter Gefühle des Träumenden, von denen er sich schon längst hätte trennen sollen und die ihn innerlich vergiften, kommen so zum Ausdruck.

 

und da wir ja in letzter Zeit oft über meine Beziehung geredet haben: Es kann kaum an der Beziehung zu meinem Mann liegen. Ich wüsste aber auch sonst nichts, was hierzu passen könnte!

 

Liebe Grüße, Lotte 

Liebe Lotte,


nachdem Du den Traum schon öfters geträumt hast, wäre es wichtig, ihn in Zusammenhang mit Sachverhalten zu sehen, die vor dem ersten Auftreten lagen.
Jedenfalls ist dieser Traum außergewöhnlich. Er zwingt fast zum Nachforschen.


Liebe Grüße, Michael 

 

Lieber Michael,

wenn es Dir nicht zu viel wird, dann schreibe ich Dir von den Dingen, die mir beim Nachdenken dazu einfallen. Ich weiß, dass Du mich damit nicht alleine lassen willst, und das ist ganz lieb von Dir. Aber ich möchte Deine Hilfe nur, wenn es für Dich in keiner Weise eine Belastung ist. Und ich möchte, dass Du mir deutlich sagst, wenn es für Dich zu viel ist. Es könnte nämlich gut sein, dass ich im Moment kleinere Signale von Dir nicht bemerke.  scham


Das erste Mal, dass ich diesen Traum hatte – ich glaube, das war vor rund 20 oder 25 Jahren. Was zeitlich davor lag und was mir hierzu spontan einfällt, ist:
- Ich hatte eine Abtreibung – aber die kann nicht der Grund sein. Ich verdränge da nichts. Ich war damals 18 Jahre alt.
- Meine Ehe? Aber auch meine Ehe kann ich mir eigentlich nicht als Grund vorstellen. Dort gibt es doch keine „Leichen“.

Wie kann ich einen solchen Traum völlig vergessen haben – obwohl ich ihn schon öfter träumte? So ein Traum ist normalerweise nicht zu vergessen.


Einen lieben Gruß emoticones von Lotte

 

Liebe Lotte,

kümmere Dich nicht um mich, kümmere Dich um Dich! smile
Ich halte das schon aus. Da habe ich den Vorteil, ein Mann zu sein.
Dieser Traum ist - wie schon gesagt - so außergewöhnlich, dass er Bedeutung haben muss.
Für Deine zwei Beispiele ist entscheidend, wie ehrlich Du zu Dir in dem Zusammenhang sein kannst.
Lassen sich terminliche Zusammenhänge finden?
Wann war Deine Abtreibung?
Zusätzlich auffallend bei Deinem Traum ist ja, dass Du Dich als Täterin siehst. War die Abtreibung eine schwere moralische Entscheidung? In welcher Lebenskonstellation warst Du? Gab es zur Zeit der Träume eine wirklich schwere Ehekrise?

 

Ich nehme nicht an, dass Du den Traum vergessen hast, aber Du scheinst ihn sehr stark verdrängt zu haben. Das spricht dafür, dass es um Bedeutendes ging.

Liebe Grüße, Michael emoticones

 

« zurück          Seite 18         nächste Seite »

lotte-aus-der-asche 0