Nichts von all dem konnte ich meinem Mann erzählen. Es gelang mir nicht, den Graben zu überbrücken, den ich zwischen uns spürte. Die Spannungen blieben, das Schweigen zwischen uns blieb. Wir lebten in diesem kleinen Häuschen räumlich eng zusammen und doch in völlig unterschiedlichen Welten. Keiner sprach die Sprache des anderen. Wie hatte ich bisher nur übersehen können, wie wenig wir redeten? Und wenn wir sprachen, ging es um Alltägliches. Alltägliches Plaudern aber konnte ich immer weniger ertragen. So wurde ich noch schweigsamer.

 

Erstaunlich fand ich, dass sich mein Gesundheitszustand trotz all dieser mich fordernden Auf und Abs zu stabilisieren begann. Selbstverständlich hatte ich noch genügend Probleme und musste äußerst aufmerksam darauf achten, was ich aß und auch wie viel davon. Einzeln nahm ich jedes Lebensmittel in die Hand, roch daran und stellte mir genau vor, wie ich es esse. Auf diese Weise „testete“ ich auch, was ich gemeinsam verarbeiten konnte. Gingen heute Pilze zusammen mit Kartoffeln? Ich spürte hin, ob mein Körper dazu „ja“ sagte oder ob er mit dem Kopf schüttelte. „Körperbefragung“ nannte Michael das und es schien eine hervorragende Vorgehensweise für mich zu sein. War ich wirklich aufmerksam, hörte ich die klaren Antworten, die mir mein Körper gab. So wuchs meine Essenliste zwar langsam, doch stetig. Reis, Karotten, Fenchel, Zuccini, Kartoffel, Olivenöl, Leinöl, frische Kräuter, Fisch, Pilze und Broccoli …. sogar hin und wieder ein Stückchen Obst konnte ich naschen, ohne Beschwerden zu bekommen. Meine Energie wuchs und ich spürte, wie es langsam aufwärts ging.

 

Gemeinsam mit der Energie lugte aber auch gleich die Ungeduld mit um die Ecke. Kaum fühlte ich mich auch nur ein bisschen wohler, wollte ich „mehr“ und vergrößerte meine Portionen. Ich wollte doch zunehmen, und völlig gesund werden! Also schmuggelte ich hier ein paar Nüsse und Samen ins Essen, da etwas Rohkost und dort noch einen Bissen mehr … mit dem Erfolg, dass die Bauchschmerzen zurück kehrten. Es benötigte  Tage um das wieder aufzufangen, was ich mit meiner Ungeduld angerichtet hatte.

 

Obwohl ich doch mit der Körperbefragung so gute Erfolge erzielte und mir klar war, wie wichtig behutsames Vorgehen ist, überging ich es immer wieder. Nie war es viel, um das ich überzog; aber eben doch zu viel und genug, um zu Rückschlägen zu führen. Das frustrierte mich, denn ich hatte das Gefühl, meine Grenze nicht erweitern zu können.

 

Aber ich wollte sie doch erweitern und fragte mich, ob es denn nicht Rückschritt bedeutete, wenn man nicht stetig versucht ein bisschen nach vorn zu gehen. Und ob „Behutsamkeit“ bedeutet, mich nur innerhalb meiner momentanen Grenzen zu bewegen und darauf zu hoffen, dass sich diese von selbst weiten? Diese Fragen betrafen ja nicht nur die Ernährung, sondern berührten alle meine Lebensbereiche. Jede Form von Entwicklung braucht doch das Darüber-Hinausgehen und Überwinden von Grenzen. Will ich mich entwickeln, muss ich doch auch etwas „aushalten“ können. Ich aber war so unglaublich schnell überfordert. Meine Grenze zwischen Anforderung, Herausforderung und Überforderung war äusserst schmal. Sollte ich mich nun trainieren, meine Grenzen zu weiten – und in welchem Maß? Oder war es besser meine Grenzen zu akzeptieren und nicht an ihnen zu rütteln?

 

Ich tat mich schwer damit, das rechte Maß zu finden. Mittig zu sein war (und ist noch heute) keines meiner Talente.

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